extra Terra
E
«EXTRA TERRA»
A few years ago, during a hike through the Bavona Valley in Switzerland (Ticino), I came across an impressively large boulder. Stone steps led up to it, and at the top, a meadow stretched out. I had a photo taken of myself on the rock. A hiking companion told me that people used to grow vegetables on this boulder. Growing vegetables on a rock...? I found this idea very unusual, and it stuck with me.
I began researching and found in a brochure a fascinating photograph from 1885: a massive boulder with a ladder leaning against it, someone standing on top of the boulder, and another small figure, barely visible, next to it. The caption read Giardino Pensile (Hanging Garden). As I searched for more information, I found neither photos nor detailed records. Fortunately, I was able to locate a historian and a contemporary witness. Through them, I learned more about the history of the people who once lived self-sufficiently in the Bavona Valley. They called themselves Terrieri (Earth Dwellers), and their villages were known as the Terre (Earths).
The Bavona Valley is a very pristine valley that fascinates with its rugged beauty. It is confined by steep rock walls, shaped over millennia by the erosion of a glacier. Massive boulders carried by the glacier lie scattered throughout. Fertile soil was scarce, and every patch of earth was vital. There were no ornamental gardens as planting flowers was something for wealthy people. Over the centuries, massive landslides repeatedly devastated fertile landscapes. The already scarce soil became an even more precious resource. This demanded ingenuity from the Terrieri. So they created vegetable gardens and meadows on large boulders, called Giarditt (garden) or Prato Pensile (hanging meadow) in the local dialect. Seemingly inhospitable stones were turned into gardens.
Today, there is little information about the use of these Giarditt. Historical sources report that these unusual gardens emerged in the 16th century when rocks were granted usage rights after natural disasters. The boulders were enclosed with dry stone walls and filled with soil by the Terrieri, creating flat areas for cultivation. The gardens were tended and passed down through generations, bearing names like „Balóm di Franc“ or „Balóm dla Predascia“. They were an important part of life in the valley. The Bavona Valley is the only place in Switzerland where this unique form of agriculture was practiced.
After World War II, many people left the valley, and only a few Terrieri maintained the tradition until the 1970s. Today, many of these hanging meadows are abandoned and deteriorating. The once fertile areas are now overgrown by forest in many places.
In 2011, the Bavona Foundation conducted an inventory of the hanging meadows and recorded 150 of these remarkable structures. The total cultivated area of these inventoried hanging meadows is about 6,500m2, with areas ranging from 2-3m2 to an impressive 500m2.
What began as curiosity for me turned into a journey – an exploration of these stones and the hidden stories they preserve. It became a mix of research, piecing together fragments of the past, and trying to create the images that had formed in my mind.
It is a story that deeply moved me. The Terrieri created a home in a tough environment, through courage, ingenuity, and the ability to adapt to harsh conditions. They leave behind a valuable legacy, reminding us to use resources carefully and to face today’s challenges with resilience and humility.
Franziska Martin
D
«EXTRA TERRA»
Vor einigen Jahren stiess ich während einer Wanderung durch das Bavona Tal (Tessin, Schweiz) auf einen beeindruckend großen Felsblock. Steinstufen führten hinauf, und oben erstreckte sich eine Wiese. Ich liess ein Foto von mir auf dem Stein machen. Eine Wanderfreundin erzählte mir, dass die Menschen früher auf diesem Felsblock Gemüse angebaut hätten. Gemüse auf einem Stein anzubauen...? Diese Vorstellung fand ich ungewöhnlich und sie liess mich nicht mehr los.
Ich begann zu recherchieren und fand in einer Broschüre eine faszinierende Fotografie aus dem Jahre 1885: ein gewaltiger Felsblock, an den eine Leiter gelehnt war. Oben stand jemand, und daneben befand sich eine kleine, kaum sichtbare Figur. Die Bildunterschrift lautete Giardino Pensile (Hängender Garten). Als ich nach weiteren Informationen suchte, fand ich weder Fotos noch detaillierte Aufzeichnungen. Glücklicherweise konnte ich einen Historiker und einen Zeitzeugen ausfindig machen. So erfuhr ich mehr über die Geschichte der Menschen, die im Bavona Tal einst als Selbstversorger lebten. Sie nannten sich Terrieri (Erdenbewohner) und ihre Dörfer wurden die Terre (Erden) genannt.
Das Bavona Tal ist ein sehr ursprüngliches Tal, das mit seiner rauen Schönheit fasziniert. Es ist eingeengt von steilen Felswänden, die im Laufe von Jahrtausenden durch die Erosion eines Gletschers geformt wurden. Riesige Felsblöcke, die der Gletscher mit sich führte, bedecken seither das Tal. Fruchtbarer Boden war rar und jeder Flecken Erde war lebenswichtig. Ziergärten gab es nicht, denn Blumen zu pflanzen war etwas für reiche Leute. Über die letzten Jahrhunderte kam es auch immer wieder gewaltigen Bergstürzen, die fruchtbare Flächen mit Steinen und Geröll unter sich begruben. Der ohnehin knappe Boden wurde somit zu einer noch wertvolleren Ressource. Dies forderte von den Terrieri Einfallsreichtum. So legten sie auf grossen Felsblöcken Gemüsegärten und Wiesen an, im Tessiner Dialekt Giarditt (Garten) oder Prato Pensile (hängende Wiese) genannt. Aus scheinbar unwirtlichen Steinen wurden Gärten.
Über die Nutzung der Giarditt gibt es heute nur wenige Überlieferungen. Historische Quellen berichten, dass diese ungewöhnlichen Gärten ab dem 16. Jahrhundert entstanden, als Felsen nach Naturkatastrophen mit Nutzungsrechten vergeben wurden. Die Felsblöcke wurden von den damaligen Terrieri mit Trockenmauern eingefasst und mit Erde aufgefüllt, wodurch ebene Flächen für den Anbau entstanden.
Die Gärten wurden über Generationen hinweg gepflegt und weitergegeben und sie trugen Namen wie "Balóm di Franc" oder "Balóm dla Predascia". Sie waren ein wichtiger Teil des Lebens im Tal. Das Bavona Tal ist der einzige Ort in der Schweiz, an dem diese einzigartige Form der Landwirtschaft praktiziert wurde.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verliessen viele Menschen das Tal, und nur wenige Terrieri hielten die Tradition bis in die 1970er Jahre aufrecht. Heute sind viele dieser Hängewiesen verlassen und vom Verfall gezeichnet. Die einst fruchtbaren Flächen sind nun vielerorts vom Wald überwuchert.
Im Jahr 2011 führte die Bavona Stiftung eine Bestandsaufnahme der hängenden Wiesen durch und erfasste 150 dieser bemerkenswerten Objekte. Die gesamte Anbaufläche der inventarisierten Hängewiesen beträgt etwa 6500m2, mit Flächen, die von 2-3m2 bis hin zu beeindruckenden 500m2 reichen.
Was bei mir als Neugier begann, entwickelte sich zu einer Reise – einer Erkundung dieser Steine und der verborgenen Geschichten, die sie bewahren. Es wurde zu einer Mischung aus Forschung, dem Zusammenfügen von Fragmenten der Vergangenheit und dem Versuch, die Bilder zu schaffen, die sich bei mir im Kopf bildeten.
Es ist eine Geschichte, die mich zutiefst berührt. Die Terrieri schufen eine Heimat in einer steinigen Welt, durch Mut, Einfallsreichtum und die Fähigkeit, sich den rauen Bedingungen anzupassen. Sie hinterlassen ein lehrreiches Vermächtnis und mahnen uns, sorgsam mit Ressourcen umzugehen und uns mit Resilienz und Demut den heutigen Herausforderungen zu stellen.
Franziska Martin